Strahlenstempel des Postkreises XI
Benjamin Seeger
Kanton Tessin und Misoxtal GR
Ein kleiner Einblick in die aktuellen Verwendungsdaten und ihre Seltenheit
94 - 53 - 29 – 12 - 10. Eine Zahlenreihe, welche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, im ersten Moment vielleicht nichts sagen wird. Dies sind die Jahre, welche bereits vergangen sind, seit den letzten grossen Publikationen zum Thema Strahlenstempel. Bereits zehn Jahre ist es her, seit der Nachtrag zum Buch «Tessin Die Strahlenstempel der Schweiz» erschien. Fünf Werke haben mich seit dem Einstieg in die Sammeltätigkeit der Strahlenstempel vor über einem Jahrzehnt begleitet. Ich bemerkte schnell, dass in diesem Gebiet noch viel erforscht werden kann. Mir ist aufgefallen, dass die Verwendungszeit der einzelnen Stempel in jeder Literatur nur auf das Jahr eingegrenzt wurde. Doch sogar das Jahr war teilweise noch unterschiedlich. Ich habe mich deswegen gefragt, ob es nicht möglich sein sollte, die Verwendungsdauer der Stempel genauer einzugrenzen? Sollte es nicht möglich sein, das bekannte Material zu erfassen, um die Seltenheit eines Briefes besser einschätzen zu können? Ich entschied mich, eine möglichst vollständige Kartei zu erstellen. Ich erfasse die bekannten Verwendungsdaten, die bekannte Anzahl der seltensten Abstempelungen und die Abstempelungen auf den seltensten Markenausgaben. Selbstverständlich ohne dabei den Anspruch zu erheben, jemals etwas Vollständiges erschaffen zu haben. Nachfolgend ein kleiner Einblick in meine Kartei.
Eine kurze Vorstellung der Strahlenstempel
Die sogenannten Tessiner Strahlenstempel kennt man nur aus dem Postkreis XI. Dieser Postkreis umfasst den ganzen Kanton Tessin sowie das Misoxtal im Kanton Graubünden. Die Stempel wurden über viele Jahre in Handarbeit vom Salvatore Torriani, einem Schmied aus Mendrisio, gefertigt. Der Auftrag wurde vom Kreispostdirektor des Postkreises XI, Herrn Bona Fanciola, erteilt. Die ersten 39 von total 85 eingeführten Stempel wurden in den Jahren 1852|1853 abgegeben und sind meist klein und die Buchstaben gedrängt. Diese Stempel verschmutzten leicht, sodass der Ortsname oft nicht richtig lesbar war. In den späten 1850er-Jahren und den frühen 1860er-Jahren stellte Salvatore Torriani breitere und höhere Stempel her, um dieses Problem zu beheben. Insgesamt sechs Postablagen erhielten nach einiger Zeit einen zweiten, grösseren Stempel, welcher den ersten ersetzte. Auf diese zweite Stempelserie werde ich später eingehen. Die Postablagen befanden sich damals meist bei einem Gastwirt, in einem Dorfladen oder beim Pfarrer, Friedensrichter oder Regierungsstatthalter. Der jeweilige Strahlenstempel durfte laut Vorschrift nicht zur Entwertung der Briefmarken verwendet werden. Die Entwertung der Briefmarken oblag dem zuständigen übergeordneten Postbüro. Diese Vorschrift wurde mal genauer und mal weniger genau befolgt.
Originaler Strahlenstempel aus Acquarossa (Sammlung Museum für Kommunikation)
Erforschung der Verwendungszeit
Legen wir unseren Fokus nun auf die gesamte Verwendungszeit aller Strahlenstempel. Nach meinem aktuellen Wissensstand kann ich die folgende Verwendungszeit nennen: 10. Oktober 1852 (Brissago) bis 18. Dezember 1897 (Berzona). Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass ich eine lose 5-Rp.-Kreuz und Wertziffer-Marke besitze mit dem Strahlenstempel GIUMAGLIO und einem darunterliegenden Datumsstempel von 1899. Da es sich aber nur um eine lose Marke handelt, kann ich nicht ausschliessen, dass der Stempel falsch eingestellt wurde (99 anstelle 96). Es ist mir auch kein Abschlag aus dem Jahr 1898 bekannt. Ich habe mich deshalb entschieden, dieses Exemplar nicht in die Statistik aufzunehmen.
Kürzeste und längste Verwendungszeit
Die Ausgabejahre und die Laufzeit der einzelnen Stempel unterscheiden sich massiv. Die ersten Stempel kamen bereits 1852 in Gebrauch, der letzte von Mergoscia erst 1873. Die meisten Strahlenstempel waren zwischen 20 und 30 Jahre in Gebrauch. Die kürzeste Verwendungszeit weist aktuell Tegna I vom 24. November 1853 bis zum 21. Februar 1854 auf. Die längste dürfte Bissone mit 42 Jahren gehabt haben. Trotz der langen Verwendungszeit zwischen dem 12. August 1852 und dem 13. Mai 1894 sind Abschläge sehr selten und auf Briefmarken grosse Raritäten.
Ortschaft | Erster Stempel | Zweiter Stempel |
BIGNASCO | 28.01.1853 - 12.09.1862 | 28.11.1862 – 09.09.1864 |
CRESCIANO | 21.04.1855 – 18.12.1858 | 01.11.1859 – 06.02.1881 |
GENESTRERIO | 17.08.1866 – 02.09.1872 | 31.01.1873 – 20.04.1888 |
ST. GOTTARDO | 08.01.1859 – 27.04.1861 | 24.04.1863 – 13.09.1883 |
TEGNA | 24.11.1853 – 21.02.1854 | 08.12.1856 – 10.02.1893 |
Die Ortschaften mit zwei Strahlenstempeln
Wie erwähnt, gab es insgesamt sechs Ortschaften, welche zu einem späteren Zeitpunkt einen zweiten, grösseren Strahlenstempel erhalten hatten, welcher den ersten Stempel ersetzte. Der zweite Stempel von Cadenazzo wurde postalisch nicht verwendet, warum bleibt unklar. Abb. 1 stammt aus dem Stempelprobenbuch von Salvatore Torriani. Somit verbleiben fünf Ortschaften, welche einen zweiten Stempel erhalten und auch benutzt hatten. Meine aktuellen Verwendungsdaten für den ersten und den zweiten Strahlenstempel der fünf Ortschaften sind unabhängig von der Stempelfarbe in der folgenden Tabelle aufgeführt. Bei Genestrerio und Tegna liegen zwischen dem Eröffnungsdatum und dem ersten bekannten Stempelabschlag nur wenige Monate. Bei den anderen sind es teilweise mehrere Jahre. Was war in dieser Zeit? Stimmt das Eröffnungsdatum der Poststelle nicht oder hat man bis heute einfach noch keine Dokumente aus dieser Zeit gefunden? Wenn wir uns den Übergang vom ersten zum zweiten Stempel anschauen, so fehlen auch hier teils nur wenige Wochen, und teilweise ist die ungewisse Zeitspanne trotz meiner intensiven Suche fast drei Jahre lang. Es gibt also noch viel zu vervollständigen. Hier bin ich auf Ihre Hilfe, werte Leserinnen und Leser, angewiesen. Die Frage, warum ein zweiter Stempel geliefert wurde, kann ich leider nicht beantworten. Ein grösserer Stempel wäre logischerweise einfacher gewesen zu reinigen. Es gibt jedoch etliche Ortschaften mit kleinen Stempeln, welche keinen zweiten erhalten hatten. Das Paradebeispiel hierfür ist der sehr kleine Malvaglia mit einer Grösse von nur 10,75 x 27,5 mm und vielen Buchstaben (siehe Abb. 2 – ein sehr sauberes Exemplar). Dieser verschmutzte sehr leicht, wurde aber dennoch nicht ersetzt. Ich schliesse dies deshalb als Grund für den Ersatz der Stempel aus. Auch ein geografischer Grund kann ausgeschlossen werden, da die Ortschaften im ganzen Kanton verteilt sind. Es sind mir auch keine Defekte bekannt, welche einen Ersatz des ersten Stempels nötig gemacht hätten. Wurden die Stempel vielleicht ersetzt, weil sie in Grösse und Buchstabenanordnung einem anderen zu ähnlich waren? Vielleicht kann dieses Rätsel irgendwann gelöst werden ...
Abb. 1: Cadenazzo II Abb.2:Malvaglia
Abb. 3: Acquarossa Zwei ehemals lose Einzelmarken konnten wieder zur ursprünglichen Buntfrankatur vereint werden.
Seltenheit auf Rayon-Marken Ein besonderes Augenmerk habe ich auf die Abstempelungen auf oder neben den Rayon-Marken gelegt. Die Rayons machen nämlich nur ca. 2% aller mit Strahlenstempel gestempelten Briefmarken aus. Bis 2014 waren gemäss Bach | Winterstein 16 Ortschaften mit der Kombination Strahlenstempel und Rayon-Marken bekannt. Ich kann zu den 16 bereits bekannten Ortschaften noch die drei folgenden bestätigen: Cavigliano, Muggio und Russo. In meiner Kartei habe ich heute insgesamt 40 Rayon-Briefe und 42 Einzelmarken, Paare oder Briefstücke aus den insgesamt 19 Ortschaften registriert (Abb. 3). Doch welches ist nun die seltenste Rayon-Ausgabe in Kombination mit einem Strahlenstempel? Selbstverständlich ist ein Strahlenstempel auf Briefmarke und Brief immer ansprechender und gesuchter als ein Stempel neben der Briefmarke. Jedoch bin ich der Meinung, dass ein sauber gestempeltes Briefstück, auf welchem der Strahlenstempel neben der Briefmarke gestempelt wurde, immer reizvoller ist als eine unsauber gestempelte Einzelmarke. Zusammengefasst ergibt sich die bekannte Anzahl in der folgenden Tabelle. Diese bezieht sich auf alle möglichen Variationen und unabhängig von welchem Ort der Stempel stammt. Eine detailliertere Aufteilung ist natürlich möglich und habe ich für mich vorgenommen. Es sind aber so viele unterschiedliche Kriterien zu berücksichtigen, dass deren Darstellung hier den Rahmen sprengen würde.
Ausgabe | Anzahl |
Rayon III Cts. | 4 Stück |
Rayon III grosse Wertziffer | 7 Stück |
Bunt-| Mehrfachfrankaturen | 9 Stück |
Rayon I | 30 Stück |
Rayon II | 32 Stück |
Neuentdeckung des ersten Ersttagsbriefes
Hier stelle ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, einen Brief aus Auressio im Onsernonetal (Abb. 4) vor. Die Postablage Auressio nahm ihren Dienst am Freitag, 1. Juli 1853, auf. Am selben Tag schrieb Vincenzo Mella, Gemeindepräsident und Postablagehalter, den nachfolgenden Brief an den «ehrenwerten Bezirks-Hilfsausschuss» in Locarno. Er bedankte sich für den Erhalt von 15 Franken in Begleitung von «unseren Gefühlen der Wertschätzung und des Respekts». Der Brief wurde am Ersttag des Strahlenstempels in AURESSIO abgestempelt und traf in Locarno am darauffolgenden Tag, dem 2. Juli 1853 morgens, ein. Eine unglaubliche Neuentdeckung und zugleich einziger bekannter Abschlag des Strahlenstempels von Auressio in blauer Farbe!
Abb. 4: Ersttagsbrief und Ausschnitt der Briefinnenseite mit der Datierung 1. Juli 1853
Hübscher Tessinerbrief von Capolago nach Lugano mit ungewöhnlicher Frankaturkombination
Zum Weiterlesen
Wichtigste Publikationen zu den Strahlenstempeln: 1930 – Hauptmann Botta
«Le timbrature ovale del Cantone Ticino»
1971 – Mario Zanini «Bolli e annullamenti postali del Cantone Ticino e della Mesolcina»
1995 – Giorgio Lavater «Tessiner Ovalstempel mit Kreuz und Strahlenfeld»
2012 – Jean-Paul Bach | Felix Winterstein «Tessin Die Strahlenstempel der Schweiz»
2014 – Bach | Winterstein «Nachtrag Strahlen- stempel der Schweiz»
letztere zwei erhältlich im philatelistischen Fachhandel zusammen CHF 48